Mehr Leistungen für immer mehr alte Menschen die immer länger Leben – so könnte man die Ursachen für rapide steigende Ausgaben der Pflegeversicherung in einem Satz zusammenfassen. Und die Antwort auf die Frage, woher das Geld dafür kommen soll, ist alles andere als banal. Einfach die Beiträge immer weiter zu erhöhen, ist deshalb problematisch, weil dann nicht nur versicherte Angestellte, sondern auch deren Arbeitgeber mehr bezahlen müssten. Die fordern jetzt eine verpflichtende Pflege-Zusatzversicherung – um die Sozialabgaben unter 40 Prozent vom Einkommen zu halten. Diese Begrenzung hatten Union und SPD im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wirtschaftsminister Altmaier würde diese Vorgabe am liebsten sogar ins Grundgesetz aufnehmen.
Jens Spahn macht sich auch in der Union keine Freunde
Aktuell liegt der Wert – Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil zusammengenommen – bei 39,8 Prozent. Spielraum für weitere Abgabenerhöhungen ist also nicht vorhanden – oder jedenfalls nicht, wenn man die 40-Prozent-Grenze einhalten will.
Braucht die Pflegeversicherung mehr Geld – und das braucht sie heute ebenso wie in Zukunft – muss also ein Steuerzuschuss her. Den hat Jens Spahn zwar schon fest im Blick, macht sich aber auch damit weder bei seinen Parteifreunden noch bei deren Unterstützern viele Freunde.
Aus zwei Gründen: Erstens fallen auch Steuereuros – gerade in Covid19-Zeiten – nicht vom Himmel, will sagen mit mehr Geld durch mehr Einnahmen ist in nächster Zeit nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Die Schulden wachsen, und die Konjunkturaussichten sind mindestens mittelfristig allenfalls mittelmäßig. Und das bedeutet, dass mit den gerade vom Wirtschaftsflügel der Union seit Jahrzehnten rituell herbeigesehnten Steuersenkungen eher nicht zu rechnen ist. Stattdessen könnte es zu Steuererhöhungen kommen. Und die dürften vor allem die Kernwählerschaft der Union treffen, also Verdiener aus der Mittelschicht.
Steuerzuschüsse bringen Privatversicherer in die Bredouille
CDU oder CSU wählen auch viele Unternehmer und Selbständige. Und die sind häufig privatversichert. Womit wir beim zweiten Grund dafür sind, dass Steuerzuschüsse bei vielen Unionswählern höchst unbeliebt sind. Denn für die Stütze der gesetzlichen Pflegeversicherung bezahlen dann mit ihren Steuern auch Menschen, die gar nicht Teil dieses Systems sind.
Steuerzuschüsse bringen auch die Privatversicherer massiv in die Bredouille: Sie bekommen keine Extramilliarden, müssen aber die damit bezahlte Ausweitung der Leistungen für Pflegebedürftige auch ihren Kunden anbieten – und dadurch massive Kostensteigerungen verkraften. Zugleich können sie ihre Beiträge nur begrenzt erhöhen, weil sie anderenfalls als Alternative zu den Gesetzlichen immer unattraktiver werden.
MIT will Arbeitnehmer zur Privatvorsorge nötigen
Was also bleibt zu tun? Die PKVs empfehlen zunächst, bei der Reform nichts zu überstürzen und mahnen die Politik, sich alles zunächst noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Zweitens plädieren sie – als Alternative sowohl zu Beitragserhöhungen als auch zu Steuerzuschüssen – für ein „altes Hausmittel“, nämlich die private (Pflege-)Vorsorge.
Die Vorteile aus Sicht der Privaten liegen auf der Hand: Zahlen die Menschen einen Teil der Pflegekosten mit eigenen Ersparnissen, können Beitragssätze und Steuerzuschüsse zumindest niedriger ausfallen.
Außerdem könnte man den Kunden dann neue Versicherungsprodukte verkaufen. Solche entwickle die Branche aktuell gerade – so die Vertreter der Privaten auf der bereits erwähnten Pressekonferenz. Stellt sich die Frage, wie man die Menschen dazu bringt, diese Produkte – also die Zusatzversicherungen – auch zu kaufen. Die Antwort darauf gab der Wirtschaftsflügel der Union am 10. Dezember mit einer gleichermaßen schlichten wie – auf den ersten Blick – wirkungsvollen Idee. Sie lautet: Man zwingt sie dazu.
Es brauche, schrieb die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), eine „betriebliche, staatlich geförderte Pflegezusatzversicherung.“ Deshalb solle jeder Arbeitnehmer bis zum Renteneintritt eine private Pflegezusatzversicherung abschließen. Wer das nicht wolle, müsse dann bei Pflegebedürftigkeit für anfallende Eigenanteile selbst aufkommen.
Der Vorschlag verschwand ganz schnell in der Versenkung
Dieser Vorschlag ist – auf den zweiten Blick – kaum umsetzbar. Und er ist höchst unsozial – aus gleich mehreren Gründen. Zum einen stellt sich die Frage, wie Selbständige Teil dieses Systems werden. Indem man sie ebenso zur Eigenvorsorge verpflichtet? Das hatte die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen 2012 schon einmal versucht. Wer sich weigerte, sollte Zwangsmitglied in der gesetzlichen Rentenversicherung werden. Der Vorstoß verschwand ebenso schnell wieder in der Versenkung wie er das Licht der Öffentlichkeit erblickt hatte: zu kompliziert und rechtlich nicht durchsetzbar. Das dürfte diesmal kaum anders sein.
Wirkungslos ist vor allem die mit dem MIT-Vorschlag verbundene Drohung, dass alle, die nicht auch privat vorsorgen, für anfallende Eigenanteile an der Pflege selbst aufkommen müssen. Und wer das warum auch immer nicht tut? Schiebt man den, wenn er zuhause nicht mehr klarkommt, im Pflegebett unter irgendeine Brücke – quasi als Strafe fürs Nichtvorsorgen? Das wird natürlich nicht passieren, sondern der Vorschlag würde schlicht dazu führen, dass die Sozialämter für noch viel mehr Menschen als heute schon den Heimaufenthalten bezahlten müssten. Das Absurde daran ist, dass die Pflegeversicherung einst genau dazu geschaffen worden war: um zu verhindern, dass immer mehr alte, hilfebedürftige Menschen den Gang zum Sozialamt antreten müssen…
Das Riester-Desaster lässt grüßen
Außerdem erinnert eine solche staatlich geförderte private Versicherung – und das ist eigentlich das Schlimmste daran – fatal an die Riester-Rente. Jenes Produkt, dem Fachleute unter dem Strich ein vernichtendes Urteil ausstellen. Stellvertretend für viele sagte der ehemalige Wirtschaftsweise Bert Rürup, im Kern sei es dabei „um die Interessen der Arbeitgeber an niedrigen Beitragssätzen und der Finanzwirtschaft an einem neuen Geschäftsfeld“ gegangen. Verpflichtende Pflegezusatzversicherungen wären von Beginn an demselben Verdacht ausgesetzt – zurecht. Deshalb hat auch die spontan geäußerte Begeisterung des Verbands der Privaten Krankenversicherung für den Vorschlag der Mittelstandsunion nicht nur ein kleines „Geschmäckle“, wie man in Süddeutschland sagen würde…
Eine Beitragserhöhung um 60 Prozent ist rechtens
Außerdem ist die Beitragsentwicklung bei solchen Produkten – auch wenn sie freiwillig abgeschlossen werden – noch unberechenbarer als in der privaten Krankenversicherung.
Vor einiger Zeit kontaktierte mich auf Facebook eine Frau, die vor drei Jahren eine Pflege-Zusatzversicherung abgeschlossen und in diesem Jahr eine Beitragserhöhung um fast 60 Prozent bekommen hatte.
Solche Erhöhungen sind rechtens – so lautete die Antwort auf ihre Frage. Das betont auch die Stiftung Warentest im Zusammenhang mit ihrem Versicherungsvergleich. Zitat: „Wir weisen in allen Veröffentlichungen darauf hin, dass Versicherungsnehmer mit Preissteigerungen rechnen müssen, auch solchen, die außerhalb der regulären Dynamik erfolgen.“ Nur wer sicher ist, diese Erhöhungen ein Leben lang zahlen zu können, auch im Rentenalter, sollte nach Ansicht der Tester einen solchen Vertrag abschließen.
Beitragserhöhung und zitierter Kommentar dazu weisen auf ein generelles Problem von Pflege-Zusatzversicherungen hin: Sie abzuschließen, ist vergleichsweise riskant und eignet sich – so absurd das klingt – eher für Menschen, die entweder über dauerhaft hohe Einkünfte oder ein bequemes finanzielles Polster verfügen. Auch dieser Umstand erinnert fatal an die Riester-Rente. Über deren Logik sagte der ehemalige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, einmal, das Paradoxe an dem Produkt sei, dass es keine Antworten für die Alterssicherheit derjenigen habe, die sich keine Riester-Rente leisten könnten…
Wer nicht mehr zahlen kann, verliert alles
Ein weiteres Problem von Pflege-Zusatzversicherungen ist, dass hier – anders als bei Lebensversicherungen – bis ins hohe Alter Beiträge bezahlt werden müssen. Wer das nicht kann, verliert den Versicherungsschutz und das bisher eingezahlte Geld.
Außerdem muss der Versicherte bei vielen Verträgen auch dann noch weiter Beiträge entrichten, wenn er bereits Pflegebedürftig ist und zugleich Versicherungsleistungen bekommt.
Hier habe ich noch weitere Gründe aufgeschrieben, warum Pflege-Zusatzversicherungen in aller Regel nicht zu empfehlen sind. Und warum seit dem ersten Januar 2020 noch mehr davon abzuraten ist als zuvor.