Heimbewohner: „Es gibt auch ein
Grundrecht auf Selbstgefährdung.“

12. Juni 2020 | Autor: Christoph Lixenfeld

Für KDA-Vorstand Frank Schulz-Nieswandt werden eingesperrte Heimbewohner zu „passiven Objekten unserer Fürsorge“. Notwendig wäre das Gegenteil: Selbstbestimmung und Öffnung der Heime nach außen. Die Forderung gibt es seit 40 Jahren – und sie ist nach Corona aktueller denn je.

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Was Heimbewohnern in Zeiten von Corona widerfuhr – und zum Teil immer noch widerfährt – ist „im Großen und Ganzen ein Wegschließen. Sauber, satt und sicher, aber wegschließen“ sagt Frank Schulz-Nieswandt, Vorsitzender des Vorstands des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, in einem spannenden Video-Interview. Die Organisation mit Sitz in Berlin entwickelt Konzepte und Modelle für die Altenhilfe und unterstützt ihre Umsetzung in die Praxis. Schirmherr des KDA ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Es geht um das Grundrecht, gefragt zu werden

Das Wegschließen werde vor allem mit dem Grundgesetz und dem Recht auf Unversehrtheit begründet, so Schulz-Nieswandt, der Professor für Sozialpolitik an der Uni Köln ist. Aber es gebe auch noch ein anderes Grundrecht, „und das ist das Recht auf Selbstgefährdung.“
Seiner Ansicht nach hätten Heimbewohner individuell befragt werden müssen.
Was ist ihr Wunsch? Haben Sie eine Präferenz für eine höhere Risikobereitschaft, dafür können Sie in den nächsten Monaten ihre Angehörigen sehen? Oder verzichten Sie auf den sozialen Kontakt, weil Ihnen Sicherheit das Wichtigste ist?
„Es geht um das Grundrecht gefragt zu werden, was man eigentlich möchte. Und das hat flächendeckend nicht stattgefunden“, kritisiert Schulz-Nieswandt.

Jeder hat das Recht auf einen Sturz

Stattdessen wurden und werden Heimbewohner systematisch entmündigt und bevormundet – seit vielen Jahren. Für mein erstes Buch zum Thema („Niemand muss ins Heim“) interviewte ich 2007 Volker Großkopf. Der Jurist und Professor an der Katholischen Hochschule NRW in Köln vertritt häufig Pflegeheime, die von einer Krankenkasse verklagt wurden, nachdem einer ihrer Bewohner gestürzt war und sich einen Knochenbruch zugezogen hatte. Die Kasse verlangt in solchen Fällen vom Heim eine Erstattung der Behandlungskosten. Begründung: Hätte die Einrichtung den Bewohner fixiert, sprich festgebunden, wäre der Sturz nicht passiert.
Juristisch durchsetzen können sich Krankenkassen mit einer solchen Forderung nur selten. Weil es bei einer abstrakten Sturzgefahr keine Verpflichtung des Heims gibt, jemanden festzubinden. Volker Großkopf: „Eine solche allgemeine Gefahr besteht bei alten, gebrechlichen Menschen im Grunde immer, deshalb kann man sie noch lange nicht ständig festbinden. Salopp könnte man sagen: Jeder hat das Recht auf einen Sturz. Sie haben ja auch das Recht, zu rauchen und sich dadurch Krebs zuzuziehen.“

Menschen im Heim werden kaserniert

Übertragen auf die aktuelle Corona-Situation heißt das nichts anderes, als dass Heimbewohner das Recht haben müssen, ihre Enkel zu treffen und sich bei ihnen anzustecken. Dieses Grundrecht auf Selbstbestimmung, so KDA-Vorstand Frank Schulz-Nieswandt, wurde systematisch missachtet. „Eine Heimleitung, ein Pfleger und der Gesetzgeber beschließen gemeinsam, das Leben der alten Menschen zu schützen, also werden sie kaserniert.“
Und das Argument, man dürfe Heimbewohner allein schon deshalb nicht draußen frei herumlaufen lassen, damit sie nach ihrer Rückkehr nicht die anderen anstecken, verdeutlicht allenfalls, wie absurd die Mechanismen unserer Altenhilfe sind:
Sie trennen ambulant und stationär so rigide voneinander, dass Zwischenformen und sanfte Übergänge von einer Wohnform zur anderen kaum machbar sind. Pflegebedürftige, die genug Geld und/oder die Unterstützung durch Angehörige haben, können – in Maßen – selbstbestimmt in der eigenen Wohnung leben, alle anderen degradieren wir zu passiven Objekten von Führsorge.
Und weil es so viele sind, pferchen wir sie dermaßen eng zusammen, dass im Falle einer Epidemie ihr aller Leben in Gefahr gerät.
Corona hat uns diesen Zusammenhang wieder deutlich vor Augen geführt, findet auch KDA-Vorstand Frank Schulz-Nieswandt. Seiner Ansicht nach sollten wir aus dieser Erfahrung heraus nach dem Ende der Pandemie die Sozialraumöffnung der Heime massiv vorantreiben. Gemeint ist damit die Normalisierung von Wohnverhältnissen, ein vernetztes Leben im Quartier – inklusive funktionierender Übergänge zwischen einem Leben zuhause und einem im Heim.

Von den Verhältnissen in anderen Ländern <br/> sind wir weiter entfernt denn je

Dieser Traum von der Sozialraumöffnung ist mindestens vierzig Jahre alt. Geträumt hatten ihn schon zu Beginn der 1980er Jahre die Mütter und Väter des Bielefelder Modells, über das ich in meinem aktuellen Buch berichte.
Hauptanliegen war bereits damals, Menschen mit Hilfebedarf eine individuelle Versorgung diesseits des Heims zu ermöglichen. Und auch damals war das Einbinden der Nachbarschaft Teil des Konzepts.
Solche Ansätze wurden seitdem natürlich auch anderswo diskutiert und ausprobiert. Im Juni 1994, also genau vor 26 Jahren, brachte der Spiegel die Geschichte „WG statt Altersheim.“ Darin ging es um (Vor)ruheständler auf der Suche nach Alternativen zur Kasernierung im Heim. Der Artikel beschrieb eine ganze Reihe von Initiativen und Gemeinschaften in ganz Deutschland, erzählte von Menschen, die ihren Traum vom Selbstbestimmten Leben im Alter verwirklichen wollten. Und er berichtete über andere Länder – vor allem die Niederlande und Dänemark – die schon damals zwar keinen kompletten Abschied, aber immerhin eine Abkehr von der Institution Pflegeheim betrieben.
Der Artikel erschien wie gesagt vor 26 Jahren. Geändert hat sich seitdem wenig: Bei uns bleibt Selbstbestimmung trotz Pflegebedürftigkeit ein Traum, andernorts wird sie gelebt. Wir schimpfen über Kasernierung, bauen zugleich aber ein Heim nach dem anderen.
Die Niederlande und Dänemark dagegen sind bis heute gute Vorbilder für eine humane Altenarbeit – und die Verhältnisse dort von unseren weiter entfernt denn je.
Auch darüber steht noch mehr in meinem Buch.

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