Mit diesem Angehörigen-Entlastungsgesetz wolle man die Situation für unterhaltsverpflichtete Eltern und Kinder von Hilfebedürftigen in der Sozialhilfe „wesentlich verbessern“, schreibt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) auf seiner Webseite.
Stellt sich die Frage, welche Wirkungen dieses Gesetz entfalten wird. Da ist zunächst der finanzielle Aspekt. Unstrittig ist, dass durch die neue Regelung Mehrkosten auf die Sozialhilfeträger – also auf Kommunen und Landkreise – zukommen werden. Denn es werden deutlich mehr Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen als bisher Hilfe vom Sozialamt benötigen. (Über 100.000 Euro im Jahr verdienen lediglich sechs Prozent aller Einkommensbezieher in Deutschland.)
Der Deutsche Städtetag schätzt die Mehrkosten auf bis zu eine Milliarde Euro jährlich. Entsprechend harsch fielen die Reaktionen aus. «Die Gedankenlosigkeit, mit der in Berlin das Angehörigen-Entlastungsgesetz auf Kosten der Kommunen beschlossen wurde, ist unbegreiflich», so Sören Link, Oberbürgermeister von Duisburg.
Mehr Nachfrage gleich mehr Heime
Zu wenig Gedanken gemacht hat sich die Regierung nach Ansicht der Städte nicht nur über die finanziellen, sondern auch über die strukturellen Folgen. Die Befürchtung ist, dass Angehörige Vater oder Mutter schneller als bisher ins Heim verlegen, wenn dieser Schritt die Familie garantiert nichts kostet. Weil aber stationäre Einrichtungen gerade in den Städten schon heute voll besetzt sind, wächst bei zusätzlicher Nachfrage der Druck, noch mehr Heime zu bauen und zu füllen – was die kommunalen Haushalte weiter belasten würde.
Die Angst vor einem solchen Szenario scheint dem Arbeits- und Sozialministerium durchaus vertraut zu sein. Jedenfalls versucht das BMAS entsprechende Bedenken in den FAQs zum Gesetz auf der Website des Hauses zu zerstreuen.
Überzeugende Argumente, warum es nicht zum befürchteten Heimsog kommen sollte, liefert das ausführliche Statement des Ministeriums an dieser Stelle allerdings nicht. Es wirft eher weitere Fragen auf.
Solidarität nur bei Umzug ins Heim?
In dem Text heißt es, mit dem Gesetz werde ein „Signal gesetzt, dass die Gesellschaft die Belastungen von unterhaltsverpflichteten Eltern und Kindern, beispielsweise bei der Unterstützung von Pflegebedürftigen, anerkennt und insofern eine solidarische Entlastung erfolgt.“
Stellt sich die Frage, warum es eine derart solidarische Entlastung nur dann greift, wer der Betroffene bereit ist, ins Heim zu ziehen?
Weiter schreibt das Ministerium: „Durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz wird dem Vorrang ambulanter Pflege vor stationärer Pflege nicht widersprochen. … Die Entlastung durch die 100.000 Euro-Grenze führt dazu, dass mit der Pflege überforderte Eltern und Kinder durch die Maßnahme entlastet werden und Familien, die mit der Pflegesituation gut zurechtkommen, ihre Angehörigen auch weiterhin verantwortungsvoll pflegen und unterstützen können.“
Schwache Argumentation des Ministeriums
Die hier behauptete Kausalität erschließt sich auch nach mehrfachem Lesen nicht. Warum sollte genau die Möglichkeit, eine Pflegebedürftige ohne eigene Zuzahlung ins Heim verlegen zu können, dazu führen, dass Familien ihre Angehörige weiterhin zuhause versorgen können? Natürlich werden das die meisten auch weiterhin tun – aber nicht wegen, sondern trotz der neuen Gesetzeslage.
Auf den ersten Gedanken könnte man erwarten, dass die Heimbetreiber das Angehörigen-Entlastungsgesetz wegen seiner potentiellen Wirkungen auf die Branche begrüßen. Warum sie ganz im Gegenteil eher Angst davor haben, und warum das neue Gesetz das ganze System unserer Altenpflege – ungewollt – in seinen Grundfesten erschüttern könnte, auch das steht in meinem aktuellen Buch, das am 28. 1. bei Rowohlt erscheint.