„Man kann Pflege nicht rationalisieren.“

4. Dezember 2023 | Autor: Christoph Lixenfeld

Für die Zeitschrift Zukunft Medizin, eine Beilage der ZEIT, interviewte mich Axel Novak zum Pflegenotstand. Die Quintessenz: Es muss sich eine Menge ändern.

© Inpact Media Verlag

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Herr Lixenfeld, Ende 2021 waren etwa 4,9 Millionen Menschen pflegebedürftig. 1,25 Millionen Personen kümmerten sich in Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten um sie. 120.000 Stellen blieben unbesetzt. Gibt es in Deutschland einen Pflegenotstand? 

Ja, den gibt es. Die Pflegeversicherung schreibt hohe Verluste. Und wir wissen nicht, wo die notwendigen Mittel in Zukunft herkommen sollen – zumal Pflege auch immer teurer wird. Heime gehen pleite oder müssen ganze Etagen leer stehen lassen, weil sie nicht genug Personal finden. Gleichzeitig gibt es vor allem in den neuen Bundesländern zu wenige Heimplätze, auch weil sich viele Investoren aus der Branche zurückziehen. In der Vergangenheit haben sie gute Gewinne gemacht. Aber die Risiken sind in der Zwischenzeit deutlich gestiegen und die Renditen zum Teil woanders besser.

2022 lagen die Einnahmen der Pflegeversicherung bei 58,5 Milliarden Euro, sechs Milliarden mehr als 2021. Trotzdem wurden die Beiträge im Juli erneut drastisch angehoben. Warum reicht das Geld nicht?

Weil die Ausgaben noch schneller steigen als die Einnahmen; die Versicherung machte 2022 einen Verlust von 2,25 Milliarden Euro. Das hat vor allem demografische Gründe. Immer mehr alte Menschen bedeuten immer mehr Pflegebedürftige. Außerdem steigen die Ausgaben – vor allem für Pflegepersonal und für Energie.

In Ihrem Buch weisen Sie auf die Konstruktionsfehler des Systems hin. Welche sind das? 

Ein zentraler Fehler ist die Illusion, der Markt werde es richten. Marktwirtschaft funktioniert in diesem Bereich nicht, weil es keinen echten Markt gibt. Die Pflegeversicherung hat aus Pflegeleistungen Produkte gemacht und für sie einen Preis festgelegt. Gewinne werden nicht am Markt erzielt, sondern durch die Pflegeversicherung zugeteilt. Und die belohnt eben nicht gute Pflege und maximale Zuwendung. Im Gegenteil: In diesem System kommen „sehr hohe Gewinne fast nur durch vorsätzliches Absenken der Versorgungsqualität zustande“ – wie es der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn einmal formuliert hat. Denn ein Heimbetreiber kann eigentlich gar kein Interesse daran haben, dass seine Bewohner wieder gesünder und fitter werden. Weil er dann an diesem Bewohner weniger verdient. 

Welche Alternativen zu diesem System gibt es aus Ihrer Sicht?

Wir wissen aus anderen Ländern, dass bessere und günstigere Pflege möglich ist. Dazu müssen wir uns vor allem von scheinbaren Marktmechanismen und vom Gewinnstreben verabschieden. Man kann Pflege nicht rationalisieren wie eine Autoproduktion. In Ländern, die es besser machen – wie zum Beispiel Dänemark und Holland – geht es nicht um Gewinne, sondern darum, kostendeckend und im Dienste der Menschen zu arbeiten. In Dänemark liegt Pflege in den Händen der Kommunen. Sie versuchen, Pflegebedürftige zu aktivieren und ihre Fitness so weit wie irgend möglich zu erhalten. Das kostet Zeit und Mühe, ist aber auch für die Gemeinde unterm Strich die kostengünstigste Lösung, weil weniger Menschen ins Heim umziehen. In Deutschland gibt es ebenfalls funktionierende Ansätze für eine bessere Pflege. Beim Bielefelder Modell zum Beispiel werden Wohnungen inklusive Betreuung an Pflegebedürftige vermietet. Voraussetzung für solche und ähnliche Konzepte ist allerdings, dass Kommunen noch über eigene Wohnungsbestände verfügen. Leider haben in den zurückliegenden Jahren viele Städte und Gemeinden ihre Wohnungen verkauft, um Haushaltslöcher zu stopfen.

Wie sollten wir aus Ihrer Sicht Pflege künftig finanzieren?

Zunächst ist die Finanzierung über Sozialbeiträge ungerecht, weil dabei ausschließlich Arbeitseinkommen herangezogen werden. Pflege über Steuern zu finanzieren, bedeutet, dass auch andere Einkommensarten ihren Beitrag leisten – Mieteinnahmen zum Beispiel oder Unternehmensgewinne. Zweitens sollten wir unbedingt die Kommunen stärken – siehe Dänemark. Natürlich gibt es auch in Deutschland städtische Pflegeheime, die sehr gut funktionieren. Aber es sind viel weniger als früher. Und drittens müssen wir den ambulanten Bereich stärken, damit weniger Menschen im Heim landen. Auch weil stationäre Pflege extrem teuer ist.

Rund vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden ja bereits ambulant zu Hause versorgt. Wie können wir diesen Bereich weiter stärken? 

Wir sollten darüber nachdenken, pflegende Angehörige – es sind meist Frauen – für ihre Arbeit zu entlohnen. Auch damit sie durch diese Tätigkeit deutlich höhere Rentenansprüche erwerben, als dies bisher der Fall ist. Viele pflegende Angehörige opfern sich auf. Durch eine reguläre Bezahlung würden wir ihre Leistung stärker anerkennen und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit reduzieren. Außerdem lassen sich Belastungen so besser auf mehrere Schultern verteilen.

Sehen Sie den politischen Willen, die Pflege neu aufzustellen?

Nein, den sehe ich nicht. Jeder Gesundheitsminister denkt bei diesem Thema maximal bis zum Ende der Legislaturperiode. Karl Lauterbach zum Beispiel wird die Zahlungen an den sogenannten Pflegevorsorgefonds, der helfen soll, die Zukunft der Pflege zu sichern, von 2024 an drastisch kürzen. Gleichzeitig sagt er, dass wir einen grundlegenden Wandel bei der Pflege brauchen. Aber dafür hat er keine Mehrheit. Die Probleme bleiben uns also erhalten. Zumal mit der Pflege und ihrer Finanzierung handfeste und zugleich sehr unterschiedliche Interessen verknüpft sind. Die Arbeitgeberseite wünscht sich gedeckelte Beiträge bei zugleich niedrigen Steuerzuschüssen und plädiert für mehr private Vorsorge. Am anderen Ende des Spektrums stehen Pflegeverbände, die für eine Vollversicherung plädieren, die auf Eigenanteile verzichtet und sämtliche Kosten der Pflege übernimmt.  

Sind sich die Menschen in Deutschland über die Strukturschwächen im Klaren? 

Das glaube ich nicht. Vermutlich halten die meisten Menschen die Pflegeversicherung für einen Segen. Das ändert sich allerdings fast immer, wenn es sie persönlich betrifft. Weil sie dann reingeworfen werden in diese Strukturen und am eigenen Leib spüren, wie schlecht sie funktionieren.

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