Vernachlässigung und Körperverletzung – trotz eines „Sehr gut“ vom Pflege-TÜV

12. August 2020 | Autor: Christoph Lixenfeld

Noch 2019 wurde das „Haus Linde“ vom Pflege-TÜV mit „sehr gut“ bewertet. Jetzt sitzen das Betreiberpaar und die Heimleiterin in U-Haft. Der Vorwurf: Misshandlung Schutzbefohlener, gefährliche sowie schwere Körperverletzung. Ein Fall von krassem Systemversagen, der sich jederzeit wiederholen kann.

Foto: NDR

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In dem Heim im Landkreis Goslar im Harz sollen Bewohner mit Medikamenten sediert worden sein, um höhere Pflegegrade und dadurch mehr Geld von der Kasse zu kassieren. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die menschenverachtende Logik von Deutschlands Altenpflege. Die lautet: Je schlechter es den Gepflegten geht, desto besser lässt sich an ihnen verdienen. Und: Der Pflege-TÜV ist eine Farce.
Diese Logik verdanken wir der Pflegeversicherung und ihren Vätern, die Hilfen unbedingt messbar machen wollten und deshalb die Pflegestufen (heute: Pflegegrade) erfanden. Hoher Pflegegrad gleich hoher Hilfebedarf gleich viel Geld von der Pflegekasse – für das Heim.
Die Bewohner dabei zu unterstützen, dass es ihnen wieder besser geht, sie wieder selbständiger und gesünder werden, ist deshalb aus betriebswirtschaftlicher Sicht im Grunde ein Fehler.
Genau diese Logik, diesem System verdanken wir jene Menschenverachtung, der die Heimbewohner im Harz jetzt offenbar ausgesetzt waren.

Pflege-TÜV verschleiert mehr als er aufdeckt

Und dass der Pflege-TÜV bei seiner Prüfung von den Missständen nichts mitbekommen hat – oder nichts mitbekommen wollte – ist kein Zufall, sondern ebenfalls Systemversagen. Um zu verstehen, warum, werfen wir einen Blick auf die Funktionsweise dieses „TÜVs“. Der sorgt keineswegs dafür – obwohl das die Bezeichnung nahelegt –, dass Heimbewohner gewartet werden wie Autos. Wäre es so, dann würden seine Bewertungen Mängel sichtbar machen und die Heimbetreiber zwingen, sie abzustellen. Doch davon kann keine Rede sein.
Im Gegenteil: Die Kontrollen und das Notensystem des Pflege-TÜVs verschleiern mehr, als sie aufdecken. Das liegt zum einen daran, dass die Prüfer weniger die Qualität der tatsächlichen Arbeit in den Heimen und mehr die Qualität der Dokumentation dieser Arbeit – also die Selbstauskunft – bewerten.  Was darin festgehalten wird, steht häufig in keinem Zusammenhang mit der tatsächlichen Behandlung der Bewohner. Denn oft würden die „Märchenzettel“ schon bei Dienstbeginn ausgefüllt, schrieb eine Pflegekraft auf Twitter. „Weil: Was auf dem Papier steht, ist wichtig, wie es einem Patienten wirklich geht, ist egal.“ Deshalb beschäftigen viele Heime Fachkräfte, die sich ausschließlich um die „Märchenhaftigkeit“ der Pflegedokumentation kümmern.

„Dann bekommt auch die letzte Niete eine Eins“

Hinzu kommt, dass sich schlechte Noten in (lebens-)wichtigen Bereichen der Pflege durch gute in Belanglosem kompensieren lassen: So fällt die mangelnde Qualität der Mahlzeiten bei der Benotung weniger ins Gewicht, wenn der ausgedruckte Speiseplan die richtige Länge und die passende Schriftgröße hat. Wer auf diese Art prüft und bewertet, will vielleicht lieber gute Noten sehen als schlechte. Ex-Heimleiter und Buchautor Armin Rieger sagte 2017, dass in dem herrschenden System sogar Heime Top-Bewertungen bekämen, die mit ihrer schlechten Pflege im Grunde Körperverletzung begingen. Genau das scheint jetzt im „Haus Linde“ geschehen zu sein. Ich habe ihn für mein Buch Interviewt.
Ein Grund dafür war laut Armin Rieger, dass die Prüfungsfragen in Zusammenarbeit mit den großen Heimträgern, also von den Geprüften, entwickelt wurden. Wenn eine Schulklasse die Prüfungsaufgaben in Mathematik selbst erstellen dürfe, „dann können Sie davon ausgehen, dass auch die letzte Niete eine Eins bekommt“, so Rieger.

Wer will schon echten Wettbewerb?

Grund für das Desaster ist, dass die Regeln des Pflege-TÜVs von der Pflegeversicherung und von den Heimbetreibern stammen. Und beide haben an einem wirklich aussagekräftigen Bewertungssystem kein Interesse. Träte den Kassen dadurch das ganze Elend in den Heimen vor Augen, müssten sie viel Geld in die Hand nehmen, um es abzustellen. Heimbetreiber wiederum bräuchten, um schlechten Noten vorzubeugen, mehr Personal – und damit ebenfalls mehr Geld. Hinzu kommt: Wenn es echte Noten von eins bis sechs gäbe, dann gäbe es auch einen echten Wettbewerb. Und wer will das schon?

Die Razzia im „Haus Linde“ und ihre Ursachen verdeutlichen an zwei besonders sensiblen Punkten die menschenverachtende Logik der Altenpflege in unserem Land. Sie belohnt erstens Heime (und auch Pflegedienste), die ihre Kunden schlecht behandeln und vernachlässigen, und sie leistet sich zweitens eine Pseudo-Kontrollinstanz, die diese Praxis mehr verschleiert als aufdeckt, ja sie schon gar nicht verhindert.
Deshalb kann sich das, was sich offensichtlich im Harz zugetragen hat, jederzeit irgendwo in Deutschland widerholen. Oder besser gesagt: Es wiederholt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in genau diesem Moment, dieser Stunde irgendwo.
Verhindern könnte es nur ein kompletter Systemwechsel – doch davon sind wir aktuell weit entfernt.

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