„…und wer depressiv wird kriegt Pillen.“

7. Januar 2020 | Autor: Christoph Lixenfeld

Je malader ein alter Mensch ist, desto mehr bezahlt die Pflegeversicherung. Das System honoriert also statt Fortschritten Defizite. Dieses Prinzip ist maßgeblich für die Vernachlässigung und das Elend Verantwortlich, das wir in der Pflege seit Jahrzehnten erleben.

Alte Frau im Heim alleine im Bett
Alte Frau im Heim alleine im Bett
© Andrea Kueppers

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Die Pflegeversicherung übernimmt in der Pflege nicht etwa sämtliche Kosten, die im Einzelfall anfallen, sondern sie gibt festgelegte Zuschüsse je nach Pflegegrad. Dabei honoriert das System statt Fortschritten wachsende Verelendung. Die Versicherung übernimmt nicht etwa sämtliche Kosten, die anfallen, sondern sie gibt festgelegte Zuschüsse je nach Pflegegrad. Dabei honoriert das System statt Fortschritten zunehmendes Siechtum. Oder wie ein Heimleiter diese Logik beschrieb: „Das System belohnt uns dafür, die Alten mit Pflegegrad 4 vor die Glotze zu setzen, einmal im Monat kommt der Kinderchor, und wer depressiv wird kriegt Pillen.“

Reformen haben nichts verbessert

Nicht anders die Logik in der ambulanten Versorgung: Wenn der Pflegedienst für jede Ganzwaschung circa zwanzig Euro bekommt, dann möchte er dem Kunden möglichst viele davon verkaufen. Und hat folglich kein Interesse daran, dass sich der Pflegebedürftige vielleicht irgendwann wieder alleine waschen kann …
Die vielen Reformen der zurückliegenden Jahre schafften diesen Konstruktionsfehler nicht aus der Welt. Sondern sie machten das System dafür nur noch komplizierter und undurchschaubarer. Selbst mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem neuen Begutachtungsverfahren, das seit Anfang 2017 greift, hat sich die grausame Logik der Versicherung nicht grundlegend geändert.

Rehabilitation findet kaum noch statt

Die Folge ist, dass Rehabilitation im besten Wortsinne, also der Versuch, alten Menschen wieder auf die Beine zu helfen, in Deutschland kaum noch stattfindet. Siebzig Prozent aller Neuzugänge im Pflegeheim werden heute direkt aus dem Krankenhaus dorthin überwiesen, ein Anteil, der sich innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt hat.
Mit eine solchen Defizitdenke ein funktionierendes Altenpflegesystem zu etablieren, ist noch nirgends gelungen. Im Gegenteil: Die Niederlande und Schweden nehmen ähnliche Ansätze wieder zurück, weil sie sich als untauglich und zu teuer erwiesen haben.
Welch desaströse Folgen die Konstruktionsfehler der deutschen Pflegeversicherung noch haben – und warum eine menschenfreundliche Altenhilfe  keine Utopie ist, das steht in dem Buch „Schafft die Pflegeversicherung ab!“, das am 28. Januar bei Rowohlt erscheint.

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